Eran Har Even – Shorter Days

World Citizen Music Records
Amsterdam 2024

Artwork Hagar Cohen

Shorter Days ist ein Tribut-Album für Wayne Shorter, den legendären im vorigen Jahr verstorbenen Saxofonisten und Komponisten. Wenn ich dieses Album besprechen soll, muss ich mich in Wayne’s World hineinhören und denken. Nicht in die akademische Welt unzähliger Musiktheoretiker, die ihre Papers übers Internet verstreuen, sondern eintauchen in die emotionsgeladenen Auftritte, die dankenswerterweise auf YouTube zu finden sind.

In einem 2010 im französischen Jazz à Vienne aufgenommenen Konzert reisst die Emotion Shorters Kompositionen Musiker wie auch Publikum gleichermassen mit. Ein restlos ausverkauftes Stadium in Frankreich mit Danilo Perez (Klavier), John Patitucci (Bass) und Brian Blade (Schlagzeug) demonstriert die enorme Kraft des Jazz eines schwarzen Saxofonisten aus den USA, doch wie hat sich diese Begeisterung auf einen jüdischen Jazz-Gitarristen übertragen, einen World Citizen, der in Israel geboren, in Holland lebt und im Trio mit Wouter Kühne (Schlagzeug) und Omer Govreen (Bass) spielt?

„In den letzten drei Jahren habe ich mich intensiv mit Wayne Shorter beschäftigt“, sagt der bescheidene Musiker und sammelt weitere Sympathiepunkte, „Shorter war ein grenzenloser See voller Inspiration und ich habe in seiner Lebensweise dabei auch ein tieferes Verständnis von mir selbst gefunden.“

Aus Shorters Kompositionen entstanden acht neue Arrangements, von denen Eran überzeugt war, dass sie Wayne gefallen hätten. Am Village Jazz Festival in Stattegg konnten die Besucher bereits ein Medley aus Shorter Days hören. Das Album gibt es von allen guten Outlets digital, streaming oder als CD.

Web: eranhareven.com

Martin Listabarth – Dedicated

Listabarth Records
Wien 2021

Cover von „Dedicated“

„Short Stories“ ist der Titel am Cover des Debütalbums von Martin Listabarth, „Dedicated“ auf seinem zweiten, und beides stimmt. Als ich die zehn Stücke des Wiener Pianisten und Komponisten live im Grazer tube’s erlebte, dachte ich sogleich an Kurzgeschichten, die er mit jeder Taste des Konzertflügels virtuos erzählt. „Dedicated“ ist noch präziser, denn jedes der Stücke ist einer Person gewidmet, die in seinem Leben eine Bedeutung hatte und Inspiration für die jeweilige Komposition war. Eine interessante Liste, von zeitgenössischen Erzählern wie Michael Köhlmeier zu Alan Turing, dem Mathematiker, der den Code der Nazis entschlüsselte, vom Fußballstar Diego Maradona bis zur früh verstorbenen Oma, die er nur von Bildern kannte.

Cover von „Short Stories“

Wie nahe sich Sprache und Musik kommen können, beweist er im letzten Stück, „Dreams of Dreams“, das Antonio Tabucchi gewidmet ist, einem seiner Lieblingsautoren.

Ich hatte mir ein „Köln Concert“ vorgestellt, doch anders als Keith Jarrett unterbrach Martin Listabarth seinen Klaviervortrag zwischen den Stücken und erzählte, wie die Kompositionen entstanden. Das machte ihn sehr sympathisch und baute gleichzeitig eine Brücke ins Publikum. Außerdem blitzte eine weitere Bedeutung des Wortes „Dedication“ durch, denn wie sonst hätte er eine solche Fingerfertigkeit mit den schwarz-weissen Tasten erlangt als durch strenge Hingabe an die Musik. Ach ja, Fußball spielt er auch noch.

Jazz-Pianist Martin Listabarth mit seinem Solo Programm im tube’s und auf martinlistabarth.at

Karo Lynn – A Line In My Skin

Strays Don’t Sleep Records
VÖ: 25. November 2022

Ah, das ist eine Stimme! Strays Don’t Sleep Records können sich glücklich schätzen, eine weisse Joan Armatrading in Leipzig entdeckt zu haben. Es ist zwar nicht mehr 1982 in Birmingham, aber ein Neuling ist sie in Deutschland auch wieder nicht. Bis neue deutsche Musikerinnen und Musiker in Österreich ankommen, dauert es wie mit einer Bestellung vom OTTO Versand manchmal eben etwas länger.

„A Line In My Skin“ ist ihr drittes Album, das mit ihrer einzigartigen Stimme traurige Balladen in düsteren Klangwolken und grauen Fotografien von Antje Kröger beinhaltet. Davor war „Outgrow“ erschienen, ein viel schlichteres, beinahe fröhliches Singer-Songwriter Album. Man vermutet eine Zäsur in ihrem jungen Leben. „Are you shaking, or am I“ fragt sie und stellt fest „times transforms“, ihre Lyrics sind voll solcher Andeutungen.

Wenn du jetzt auf die Musik aus Leibzig neugierig geworden bist, das Label wird demnächst eine Single auskoppeln: „when all is still the same“ (VÖ: 26. August 2022). Auf das neue Album wirst du leider noch eine gute Weile warten müssen. Neun Tracks sind fertig gemischt, zwei sind noch in Arbeit. Karo Lynn produziert gewissenhaft und das Warten wird sich lohnen, versprochen!

„when all is still the same – gefangen in einer Endlosschleife; Gedanken, die sich im Kreis drehen und immer wieder zum selben Schluss führen. Und eigentlich ist es sinnlos, das durchbrechen zu wollen, denn egal wie sehr ich es versuche, es zieht mich nur tiefer in diesen Strudel hinein.“

Karo Lynn

Jütz – Süsse Stille

SCHÖKI
Bern 2021

Jütz © Nyima Sauser

Die Nachhaltiglkeit aus dem Genuss von 75 Gramm Schweizer Schokolade stellt sich erst dann ein, wenn man seine Augen wieder öffnet und der Gaumen die Sinneswahrnehmung an die Ohren freigibt, sofern man den QR-Code vom SCHÖKI schon gescannt und sich das neue Album von Jütz heruntergeladen hat. Man könnte meinen, dass es hier bloss um Marketing ginge, wie man es hierzulande von Zotter Schokoladen beim steirischen herbst gewohnt ist, aber das stimmt nicht: „Süsse Stille“ erscheint tatsächlich nur als Stream/Download auf Schweizer Bio Schokolade der Firma SCHÖKI. Originell, denn ich bin überzeugt davon, dass man Vinyl nicht essen kann.

Die SCHÖKI war schnell weg, das Album wird in der stillen Zeit wohl noch öfter in meiner Playlist aufscheinen. Es ist Winter ohne Kitsch, weisser Neuschnee, ein bisschen Jazz, ein wenig Volkstümliches, ganz wie man es von einem Trio aus der Schweiz und Tirol erwarten darf. Hausmusik vom Feinsten.

Jülz sind Isa Kurz (Akkordeon, Hackbrett, Violine, Stimme), Philipp Moll (Kontrabass, Perkussion, Stimme) und Daniel Woodtli (Trompete, Flügelhorn, Perkussion, Stimme) und wie die Instrumentierung vermuten läßt, bestens ausgestattet für besinnliche Klänge.

„Süsse Stille“ ist das dritte Album des Ensembles und alle Stücke, – das kann man ganz ohne ärztliches Attest behaupten, – wirken pulssenkend. Sie lassen eine innere Ruhe einkehren und verschmelzen im Kopf des Hörers zu Kindheitserinnerungen: man wähnt sich in der seinerzeitigen Schihütte in Alpbach, oder erkennt die oft nur angedeuteten Weisen aus dem Liederbuch, das man in der Volksschule erlernte.

Eine wunderschöne Begleitung durch die vorweihnachtliche Winterlandschaft, die mit einer süssen Ablenkung in Zeiten des Corona Virus serviert wird. Mmmmh.

Woodkid – S16

UMD/ Polydor 
VÖ: 16.10.2020

Ein äußerst interessantes Album hält meine Aufmerksamkeit nun schon den ganzen Morgen gefangen, nachdem ich es ein paar Wochen auf meinem Schreibtisch liegen hatte. Es war dem Umstand zu verdanken, dass weder Artist noch Titel am Cover stand, also musste ich hineinhören.

How could you be so blind? fragt eine Stimme, die mich gleich im ersten wuchtigen Track „Goliath“ an Antony and the Johnsons erinnert, einem Track, der schon durch seine verschachtelten Beats (Peter Gabriel kommt in den Sinn) auffällt. „S16“ (das chemische Symbol und die Ordnungszahl für Schwefel) hinterfragt den Begriff der Dimension, von unendlich groß bis unendlich klein, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Mensch und Industrie und die Idee der kollektiven und individuellen Verantwortung, eine Welt an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen. So zumindest steht es im Pressetext, auch wenn es mir nicht ganz treffend erscheint, obwohl die Traurigkeit in vielen Tracks genau diese Endzeit-Stimmung erzeugt. Der Kinderchor aus Tokyo unterstreicht das noch. Zum Gück werden wir in der Klavierballade „Horizons Into Battlegrounds“ gerettet: Can I hold on to you?

Aber schauen wir uns Woodkid genauer an. Mit bürgerlichem Namen Yoann Lemoine hat der am 16. März 1983 in Lyon geborene Musiker und Regisseur schon einen guten Ruf in Frankreich, wo man ihm für sein 2013 erschienenes Debüt Album „The Golden Age“ die Genres Chamber Pop und Art Pop umhängt. Der Kurier meint, es sei Sci-Fi. Selber hören, empfehle ich. Ein Besuch seiner Website woodkid.com lohnt ebenso. Der Mann ist tatsächlich der beste französische Export seit Noir Désir (man erinnere „Le Vent Nous Portera“).

Gerald Ganglbauer

Tori Freestone Trio – El Mar de Nubes

Whirlwind Recordings
London 2019

I called her Lisa, for she reminded me so much of the quirky Lisa Simpson, the famous cartoon character with the saxophone, who, when she plays, gives a damn about anything else but her music.

Tori Freestone and I met at the Leibnitz Jazz Festival 2017, where she played the opening set in the gorgeous wine cellar with Dave Manington (bass) and Tim Gils (drums). The arrangements left me a little sad, that might be the tenor saxophone as such, or Tori’s mood, that was already shaping the forthcoming album, „El Mar de Nubes“ or Wolkenmeer (The Sea of Clouds).

Backstage I tried to cheer her up with that Lisa thing and I think I succeeded for a little while. She was hanging with me and Peter Purgar, another photographer, and the three of us stayed in touch over the years.

Tori Freestone in Leibnitz, photo by Peter or me, I’m not sure

London calling

Naturally, I recommend her album to anyone who loves Jazz as much as I do. However, you should listen yourself, and what is today’s virus-free way of doing it? Tune in to a live stream tomorrow night at the Vortex Jazz Club!

Facebook or YouTube 8 PM London time

Gerald Ganglbauer

Das Trojanische Pferd – Gunst

SCHALLTER/monkey
Wien 8.5.2020

„Wir sind nackter als je zuvor – gerade weil wir diesmal ständig die Kostüme wechseln und wir uns dabei zuschauen lassen.“, sagt Hubert Weinheimer, seit 2007 Texter, Sänger und Gitarrist der Band „Das Trojanische Pferd“. GUNST ist das vierte Album der eigenwilligen Wiener Formation, die bereits am Cover schräg auftritt.

Der 1983 in Oberösterreich geborene Hubert Weinheimer ist eigentlich Schriftsteller (Gui Gui oder Die Machbarkeit der Welt, 2014), was sich in spannenden Lyrics spiegelt. Kein Stein bleibt auf dem anderen, wenn er behauptet:

Ich bin das System – und ich werd untergehn
Wie die Sonne wunderschön ist, so bin ich unversöhnlich
Und du kannst mich sehen
Du kannst mich tanzen sehen
Ja ich bin das System

Ich bin überall – und ich bin in der Überzahl
In diesem Einkaufszentrum – bin ich den ganzen Tag auf Sendung
Und du kannst mich hören
Ich will dir ganz gehören
Will mich mit dir verschwören

Aha aha aha
So so so so…
Ja ja ja ja

Gesungen in einer Wiener Melange aus Raabe und Lindemann, mit einem Löfferl Morak. Mein Menüvorschlag dazu wäre Hirn mit Ei, wenn man nicht unter Verschwörungstheorie-Unverträglichkeit leidet. In den Liedern (die Band bezeichnet sie als „Chanson-Punk)“ sind ausreichend Igelhecken zum Verstecken und davon laufende Hasen, damit einen das Album gefangen hält. Aber man kann nicht alle Emotionen nur an einen Song nageln. Ich weiss nicht. Ich weiss nicht. Ich weiss nicht.

Beim folgenden Titel, „Ich weiss, wo du wohnst“, denke ich an Matt Berninger oder noch besser an Nick Cave & The Bad Seeds mit „We No Who U R“. Bei FM4 ist das „Pferd“ nun auch des öfteren on air und das gefällt mir, denn die Band steht auch in meiner GUNST.

„Ich weiß wo du wohnst“ – aber ich kann/soll gerade nicht zu dir.

Hubert Weinheimer: Gitarre, Gesang, Klavier & Regie, David Schweighart: Keys, Bass & Schlagzeug, Judith Filimonova: Bass, Keys & Voc, Rene Mühlberger: Keyboards, Gitarren & Schlagzeug, Hans Wagner: Cello, Bass, Klavier, Gitarre etc.

Videoframe aus dem Idiotensong, circa 2015 | © Das Trojanische Pferd

Das Trojanische Pferd – die Band Website

Gerald Ganglbauer

Celeigh Cardinal – Stories From a Downtown Apartment

Self Published
Vö: 17. April 2020

2017 erschien ihr Debüt Album, das Celeigh Cardinal bei den Western Canadian Music Awards 2018 zum „Indigenous Artist of the Year“ machte. Wenn ich mir das zweite Album anhöre, das Geschichten aus der Stadtwohnung und so gar keine indigenen Klänge darbietet, so verstehe ich die Promotion nicht, die das Label „native American“ über sie drüber klebt, als ob sie am Lagerfeuer Koyaanisqatsi chanten würde. Nicht, dass mir das nicht gefiele 🙂

Aber zurück in die kanadische Stadt Edmonton, wo sie im Gibson-Wohnblock ihre schönen Lieder schreibt, von Männern, die sie nicht mehr kennen will und solchen, die sie liebt und deshalb gehen lässt. Geschichten einer Singer/Songwriterin, die nur in einem solchen Apartment entstanden sein konnten, mit solchen Nachbarn wie sie seinerzeit Suzanne Vega hatte, wobei es in Wahrheit keinen schert, ob indianisches oder meinetwegen irisches Blut durch die Adern fliesst. Kanada war immer schon ein guter multikultureller Boden für Musik, Brian Campeau, The Tea Party oder Crash Test Dummies kommen in den Sinn und es ist schön zu hören, dass es auch eine starke Roots Music Scene gibt, die Celeigh Cardinal ihren Platz gibt, ohne zu diskriminieren.

Auf einer kleinen Europa-Tournee wird sie übrigens am 20. und 21. Mai 2020 in Innsbruck bzw. Kitzbühel zu hören sein, so es der Virus bis dahin zulässt.

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